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Heft 2/2009

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Themenschwerpunkt:
Demenz (Hrsg. Reiner Mosetter, Kurt Mosetter, Gottfried Fischer)

Josef Kessler, Elke Kalbe und Stephanie Kaesberg
Abstract
Kann man sich vor einer Demenz schützen?

Albert Wettstein
Abstract
Demenz alsTrauma

Manfred Sauer und Sabine Emmerich
Abstract
Beziehungsgestaltung im Alter bei Hilfsbedürftigkeit und bei Demenz – das Entstehen einer gemeinsamen narrativen Wirklichkeit

Kurt Mosetter und Reiner Mosetter
Abstract
Die Alzheimer-Erkrankung – ein mehrdimensionaler Prozess

Barbara Benoit
Abstract
Unfall als Inszenierung gestörter zwischenmenschlicher Interaktionen


Peter Müller-Locher
Abstract
Psychotherapie als eigenständiges Wissensgebiet – Zur Aufgabe und Organisation der Schweizer Charta für Psychotherapie

Josef Kessler, Elke Kalbe und Stephanie Kaesberg

Kann man sich vor einer Demenz schützen?
Josef Kessler, Elke Kalbe und Stephanie Kaesberg

Zusammenfassung
Glaubt man den Schätzungen des BMFSFJ für die Jahre 2020 und 2050, so werden ungleich mehr ältere Menschen Jüngeren gegenüberstehen. Mit dieser Alterszunahme findet auch eine Zunahme von Menschen statt, die an einer Demenz erkrankt sind. Ursächliche Therapien existieren bis dato nicht, so dass sich die Frage stellt, ob man sich nicht vor einer Demenz schützen oder wenigstens ihren Beginn hinauszögern kann. Aber vor welcher Demenz will man sich eigentlich schützen? Wenn man Prophylaxe betreiben will, muss man die Risikofaktoren kennen. Wenige sind nicht zu beeinflussen, wie zum Beispiel das Alter selbst, das Geschlecht oder der ApoE-4-Status. Es ist auch immer wieder zu beobachten, dass sich Menschen vor Demenzausbruch in einer psychischen Krise befinden. Hier besteht eine Indikation für spezifische Psychotherapie. Das Risiko kann durch geistige Aktivität, Bewegung, Gewichtsabnahme, richtig eingestellten Blutdruck, soziale Aktivität und ein gelungenes Stressmanagement gesenkt werden.

Schlüsselwörter
Demenz; Differentialdiagnose; Prophylaxe; Prognose; Lebensweise

Can one protect oneself from dementia?

Summary
According to estimations offered by the German BMFSFJ for the years 2020 and 2050, youth will have to face a disproportionally bigger number of elderly members of the society. An increase of patients suffering from dementia goes along with this increment of age. Causal therapies do not exist yet, so questions arise whether it is possible to protect oneself from dementia or delay the onset of the disease. But which dementia does one want to protect oneself from? For prophylaxis, one needs to know about the risk factors. Some of them are not influenceable, such as age, gender or ApoE-4-status. Often, dementia patients also suffer from an earlier psychogenic crisis. An indication for specific psychotherapy is obvious in such cases. The risk can be decreased by mental activity, physical exercise, weight loss, adjusted blood pressure, social activity and effective stress-management.

Keywords
dementia; differential diagnosis; prophylaxis; prognosis, way of living

Albert Wettstein

Demenz alsTrauma
Albert Wettstein

Zusammenfassung
Einleitung: Für die meisten Menschen ist es eine der schlimmstmöglichen Bedrohungen, durch Demenz das zu verlieren, was sie zu einem einzigartigen Individuum macht. Fragestellung: Der Hirnleistungsverlust ist in frühen Stadien den meisten Betroffenen bewusst. Trotzdem sei ihre Lebensqualität zufriedenstellend, berichten befragbare Demenzkranke. Wie verarbeiten sie das Trauma Demenz so wirkungsvoll? Methode: Anhand von fünf Fallbeispielen wird dies exemplarisch dargestellt und es werden Untersuchungen aufgeführt. Resultat: Im Vordergrund stehen Verdrängung, Ableugnen, Rückzug in eine Vita minima mit apathischer Resignation oder dankbare Akzeptanz von Hilfe. Die betreuenden Angehörigen leiden mehr als die Betroffenen selbst: Je dominanter die Erkrankten, desto belastender die Pflege. Dominanzfaktoren erklären 24 % der Varianz der Belastung. Schlussfolgerung: Wegen dem Trauma Demenz bedürfen vor allem die betreuenden Angehörigen Unterstützung, um sekundäre Leiden zu lindern. Die aufsuchende Beratung erweist sich als adäquates Mittel.

Schlüsselwörter:
Demenz, Traumabewältigung, Belastung, Dominanz, Beziehungsqualität.

Dementia as a trauma
Summary
Background: For most people, one of the worst threats is to develop dementia. Objectives: In early dementia, most patients realise some of their deficits, but they nevertheless give a high rating to their quality of life. How do they cope so successfully? Methods: Five case studies illustrate different coping strategies, contributing published studies are reviewed. Results: Prevalent coping strategies are denial, withdrawal in a vita minima, apathic resignation or grateful acceptance of help. Dementia burdens caring relatives more than the patients themselves. The more dominant the patient has been, the higher the burden of care tends to be. The premorbid dominance explains 24 % of variance of the caregivers’ burden. Conclusion: In dementia, the caring relatives need support to cope with the traumatic experience of a dementing illness. Only very individualised support is helpful.

Keywords:
dementia, coping, dominance, caregiver burden, quality of relationship.

Manfred Sauer und Sabine Emmerich

Beziehungsgestaltung im Alter bei Hilfsbedürftigkeit und bei Demenz – das Entstehen einer gemeinsamen narrativen Wirklichkeit
Manfred Sauer und Sabine Emmerich

Zusammenfassung
Das Schwinden der körperlichen Kräfte im Allgemeinen und der Abbau der intellektuellen Fähigkeiten bei Demenz im Speziellen stellen besondere Anforderungen an die Gestaltung der Beziehung im Alter. Latent droht dem alten Menschen immer ein ‚Versagen bei der Anpassung’, welches im Sinne Winnicotts als schlechte Umwelt erlebt wird, auf die das Leib-seelische reagiert. An Hand von zwei Fallvignetten wird ein situativ bedingtes Versagen bei der Anpassung ausführlich beschrieben und daraus eine Vorstellung für eine sinnvolle therapeutische Gestaltung der Beziehung bei Demenz entwickelt.

Schlüsselwörter
Alter; Demenz; Versagen bei der Anpassung; Entstehen einer narrativen Wirklichkeit

The structuring of relationships in
old age and dementia – the emergence
of narrative reality

Summary
The decline of physical strength in general and the gradual collapse of intellectual capacity with dementia in particular pose specific demands on the structuring of relationships in old age. Potentially old people are threatened by „adaptation failure“ which according to Winnicott is experienced as a hostile environment with a bodily-psychic reaction. A situation in which adaptation failure results is described in detail using 2 case studies and a presentation of a meaningful therapeutic structuring of a relationship in the presence of dementia is developed.

Keywords
old age; dementia; failure to adapt; emergence of narrative reality

Kurt Mosetter und Reiner Mosetter

Die Alzheimer-Erkrankung – ein mehrdimensionaler Prozess
Kurt Mosetter und Reiner Mosetter

Zusammenfassung
In diesem Artikel soll die Alzheimer-Erkrankung als ein bio-psycho-soziales Gesamtgeschehen betrachtet werden. In Anlehnung an Hegel wird zunächst eine entwicklungstheoretische Herangehensweise vorgestellt, die mentale Funktionen und neuronale Strukturen als dynamische Größen auffasst. Eine Logik der Selbstorganisation des Lebendigen wird in ihren Grundzügen deutlich. Diese findet sodann ihre Anbindung an Piagets Beobachtungen zur kognitiven Entwicklung; umgekehrt zeigt sich, dass Piagets genetische Erkenntnistheorie einer inneren Logik folgt.
Vor diesem Hintergrund wird die Alzheimer-Erkrankung als eine Umkehrung der menschlichen Entwicklung beschrieben; ihr Verlauf entspricht den von Piaget aufzeigten kognitiven Stufen, jedoch in entgegengesetzter Richtung.

Im Rahmen dieses dynamischen Konzepts soll schließlich eine funktionelle Beschreibung der Gehirnstrukturen bei der Alzheimer-Erkrankung vorgestellt werden. Funktionelle Makrostrukturen können dabei als Teilmoment einer bio-psycho-sozialen Biographie verstanden werden. Neurobiochemische Prozesse können dem Bereich der funktionellen Mikrostrukturen zugeordnet werden. Auch sie erweisen sich als bestimmt durch Handlungen und Interaktionen von Personen.

Neben der Nosologie ist auf diesem Weg vor allem die Ätiologie massgebend. In den molekularen, biochemischen Veränderungen erkennt diese wichtige Weichenstellungen der Neuro-Pathogenese. Scheinbar zusammenhanglose neurodegenerative Veränderungen können so in einem grundlegenden kausalen Zusammenhang verstanden werden. Hyperphosphorylierung des tau-Proteins und β-Amyloid-Plaques zeigen sich als letzte Ausläufer einer Entgleisung des Insulinsystems. Die Alzheimer-Erkrankung ist vielmehr als „Diabetes mellitus Typ 3“ zu verstehen. Im Gegensatz zur Genomik scheinen Glykobiologie und Neurobiochemie eher der biologischen Ebene der bio-psycho-sozialen Gesamtdynamik der Alzheimer-Erkrankung gerecht zu werden.

Schlüsselwörter
Alzheimer-Erkrankung; Hegel; Piaget; Entwicklungstheorie; funktionelle Makrostrukturen; funktionelle Mikrostrukturen; Insulinresistenz; Diabetes mellitus Typ 3; Glykobiologie

Alzheimer’s disease as a multidimensional process

Summary
This article describes Alzheimer’s disease as a holistic bio-psycho-social phenomenon. Starting off from Hegel’s philosophy, it presents an evolutionary approach that classifies mental functions and neuronal structures as dynamic variables. In the process, a logic of self-organisation of life itself begins to show. This logic follows Piaget’s observations concerning the process of cognitive development. Also, it becomes apparent that Piaget’s genetically based epistemology follows a specific inner logic as well.

Based on these premises, Alzheimer’s disease is interpreted as a reversal of the process of human evolution. The pathological progress parallels the stages of cognitive development that Piaget describes, but does so in reversed order.
Following this dynamic concept, a functional description of the cerebral structures in patients suffering from Alzheimer’s is presented. Functional macro structures can be seen as snapshots of a bio-psycho-social biography while neuro-biochemical processes are seen as functional micro structures. Here, as well, the actions and interaction of individuals prove to be essential.

Alongside the nosological perspective, one of the key approaches in this theory is that of aetiology. The aetiological approach detects crucial markers of the impending neuro-pathogenesis in the occurring molecular biochemical variations. Seemingly arbitrary neuro-degenerative mutations are thus put in a fundamental cause-and-effect relation. Pathological signs common in Alzheimer’s disease like the hyperphosphorylated tau protein and amyloid beta (Aβ) plaques occur in the final stages of a deregulation of the insulin system. Alzheimer’s is thus interpreted as a type 3 diabetes. In contrast to genomics, the theories derived from glycobiology and neuro-biochemistry prove to give more credit to the fundamental bio-psycho-social dynamics of Alzheimer’s disease.

Keywords
Alzheimer’s disease (AD); Hegel; Piaget; evolutionary approach; functional macro structures; functional micro structures; insulin resistance; type 3 diabetes; glycobiology

Barbara Benoit

Unfall als Inszenierung gestörter zwischenmenschlicher Interaktionen
Barbara Benoit

Zusammenfassung
An Unfällen und Unfallverletzungen wird deutlich, dass das gegenwärtige Modell der naturwissenschaftlichen Medizin den Anforderungen, die zum Verstehen eines Unfall- und Krankheitsprozesses erforderlich sind, nicht gerecht wird. Wenn psychische Phänomene, wie das sog. „Menschliche Versagen“, Unfälle verursachen, bewirken sie auch die Unfallfolgen, die Verletzungen. In einer Feldstudie über 130 stationäre Unfallopfer konnte die innere Kohärenz zwischen der gestörten Körperfunktion des verletzten Körperteils und zuzuordnenden, gestörten zwischenmenschlichen Handlungen nachgewiesen werden. Die körperlichen Funktionen des Menschen dienen der Interaktion. Nach den Erkenntnissen der Etymologie sind die meisten Begriffe und die Bezeichnungen vieler Körperteile substantivierte Tätigkeitswörter, die eine Handlung des Subjekts zu seiner Umwelt beschreiben. Unter Einbezug der ursprünglichen Bedeutungen der von den Patientinnen benutzten Wörter und der medizinischen Diagnosen erweisen sich der Unfall und die Unfallverletzung als eine Inszenierung zwischenmenschlicher Probleme. Damit erübrigt sich der Disput „somatisch versus psychosomatisch“: Die Erkrankungen werden psychisch verursacht.

Schlüsselwörter
Unfälle; Unfallverletzungen; Etymologie; Disput „somatisch versus psychosomatisch“

Accidents as the enactment of disturbed human interactions
Summary
Accidents and accident-related injuries show that the current model of scientific medicine does not meet the requirements for comprehending processes concerning accidents and disorders. If psychic phenomena, like so-called „human error”, cause accidents, they are also responsible for the effects of accidents, namely injuries. A field study involving more than 130 accident victims undergoing inpatient treatment has proved the inner coherence between the disturbed function of an injured body part and the related disturbance of human interaction. Human bodily functions serve to enable interaction. According to etymological findings, most terms and designations of body parts are nouns that originated as verbs and which describe a person’s interaction with his or her environment. An investigation of the original meanings of words used by the patients and case-related medical diagnoses reveals that accidents and accident-related injuries are an enactment of the problems in human interaction. It follows that the ongoing „somatic vs. psychosomatic” controversy is irrelevant because of the psychic cause of the disorders.

Keywords
Accidents; accident-related injuries; etymology; „somatic vs. psychosomatic” controversy

Peter Müller-Locher

Psychotherapie als eigenständiges Wissensgebiet – Zur Aufgabe und Organisation der Schweizer Charta
für Psychotherapie

Peter Müller-Locher

Zusammenfassung
Der Aufsatz ist ein überarbeiteter Vortrag. Er wurde gehalten unter dem Titel „Bewahren und Entwickeln. Ein Konzept der Psychotherapiewissenschaft in der Schweiz“ an der Tagung „Heilen und Forschen heute“, veranstaltet u.a. von der Deutschen Gesellschaft für Psychotherapiewissenschaft am 14./15. Nov. 2008 in Köln. Aus organisationswissenschaftlicher Perspektive wird der Frage nachgegangen, welche Organisiertheit die Aufgabe benötigt, die Psychotherapie als eigenständige Profession und als eigenständiges Wissensgebiet in ihrer Vielfalt und Interdisziplinarität zu bewahren und weiterzuentwickeln. Dabei wird geprüft, inwiefern es der Schweizer Charta für Psychotherapie gelingt, den an sie gestellten Anforderungen zu entsprechen und die Komplexität der Außenwelt durch angemessen komplexe interne Strukturen zu verarbeiten. Der Vergleich von Aufgaben und Strukturen zeigt, welche Mängel an Organisiertheit behoben werden konnten und welche nicht. Um der Idee, die Psychotherapie als eigenständiges Wissensgebiet in ihrer Vielfalt und Interdisziplinarität zu bewahren und weiterzuentwickeln, eher zum politischen Durchbruch zu verhelfen, sind konkurrierende Schulen und Verbände auch über die Landesgrenzen hinweg zu sensibilisieren – für die Generierung eines Zugewinns nicht nur im Bereich des gemeinsamen kurativen Interesses der Psychotherapie, sondern auch ihres gesellschaftlich verankerten emanzipatorischen Interesses.

Schlüsselwörter
Aufgabe; Umwelt; gesellschaftlicher Kontext; Komplexitätsdifferenz; emanzipatorisches Interesse

Psychotherapy as an Independent Field of Knowledge – On the Function and Organisation of the Swiss Charter for Psychotherapy
Summary
This paper is a revised lecture entitled “Sustaining and Developing. A Concept of Psychotherapy in Switzerland” given at the conference “Healing and Research Today” on 14/15 November 2008 in Cologne organised by, among others, the German Society for Psychotherapy. The subject matter is contemplated from the perspective of organisational knowledge, considering what type of organisation the task requires to preserve and further develop psychotherapy as an independent profession and independent field of knowledge in all its varieties and interdisciplinarity. The way in which the Swiss Charter for Psychotherapy succeeds in meeting the demands placed upon it and in processing the complexity of the outside world through proportionately complex internal structures is thereby examined. A comparison of functions and structures shows which organisational shortcomings can be repaired and which cannot. In order to help the notion be accepted as a political breakthrough that psychotherapy is an independent field of knowledge to be preserved and developed in all its varieties and interdisciplinarity, competitive schools and associations, even those that cross state borders, should be sensitised – to generate an increase not only in the area of the common curative interest of psychotherapy, but also its socially embodied emancipatory interest.

Keywords
function; environment; social context; difference in complexity; emancipatory interest

"Wie kaum ein anderes Thema werden gegenwärtig Demenzerkrankungen intensiv diskutiert ... Um Demenz verstehen zu lernen, bedarf es zum einen neurologischer Forschungen, zum anderen geistes- und sozialwissenschaftliche Erkundungen. Die Beiträge beleuchten einige wichtige Momente dieser bio-psycho-sozialen Gesamtthematik"
(
Dr. Mabuse 101/2009)

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